28.10.2025 - Theater Spielraum/ Wien

SPIEGEL
Deutschsprachige Erstaufführung

Sam Holcrofts SPIEGEL entwirft das Panorama eines fiktiven Staates, in dem Kunst der Kontrolle unterworfen ist. Theater darf nur entstehen, wenn es die offizielle Ideologie stützt. Innerhalb dieses hermetischen Systems begegnen sich vier Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit Wahrheit, Macht und Selbstinszenierung ringen.

Paul Graf, Anna Zöch, Paul Wiborny, Adrian Stowasser


Celik, Funktionär im Kulturministerium, sieht sich als Bewahrer der Ordnung. Mei, seine Kollegin, beginnt an der moralischen Legitimation der Zensur zu zweifeln. Bax, ein vom Regime geförderter Autor, sucht den schmalen Grat zwischen Anpassung und Auflehnung. Und Adem, ein unerfahrener Neuling mit einem unzensierten Stückmanuskript, wird zum Prüfstein für alle.

Im Versuch, Wahrheit auf der Bühne zu zeigen, verstricken sich die Figuren in ein Geflecht aus Überwachung und Täuschung. Was als Theater im Theater beginnt, kippt in ein gefährliches Machtspiel, in dem Realität und Inszenierung ununterscheidbar werden. Holcrofts Stück wird so zum Spiegel der Frage, wie sehr wir alle Gefangene unserer eigenen Bilder sind.

In dieser Inszenierung wird die Bühne zum Labor der Wahrheit. Was zunächst wie die Geschichte eines Automechanikers beginnt, der sein erstes Theaterstück schreibt, entfaltet sich zu einer raffiniert gebauten Parabel über Macht, Kontrolle und Selbstzensur. Holcrofts Text, messerscharf in Sprache und Struktur, changiert zwischen Komik und Beklemmung, getragen von einem Ensemble, das psychologische Präzision mit szenischer Wucht verbindet.

Im Zentrum steht Paul Graf als Adem, ein Mann zwischen Naivität und Widerstand, der mit jeder Szene tiefer in den Mechanismus der Manipulation gerät. Graf spielt mit stiller Intensität, anfänglich unbeholfen, fast kindlich gläubig an die Kraft des Wortes, später zunehmend gebrochen und misstrauisch. Er zeichnet das eindrucksvolle Porträt eines Künstlers, der erkennt, dass sein eigenes Werk gegen ihn gewendet wird, ein fein nuanciertes Bild eines Menschen, der seine Stimme verliert, weil er gehört werden will.

Paul Wiborny als Celik verleiht dem Abend rhythmische Struktur. Er spielt mit Körperlichkeit, Pausen, präziser Artikulation. Seine Figur gewinnt Macht aus Undurchsichtigkeit. Jedes Wort ist gewogen, jede Bewegung kalkuliert. Gerade darin liegt seine Bedrohlichkeit. In Momenten, in denen Celik die Distanz verliert, blitzt Verletzlichkeit auf, hinter der Fassade rationaler Kontrolle erscheint existentielle Einsamkeit. Wiborny deutet Celik als einen, der sich im Spiegel der anderen ebenso verliert wie sie in ihm.

Anna Zöch als dessen Sekretärin Mei fungiert als Spiegel des Publikums. Ihre zögerlichen Fragen und stillen Irritationen öffnen Räume der Reflexion. Sie zwingt die Zuschauenden, das Spiel der Täuschungen nicht nur intellektuell, sondern emotional nachzuvollziehen. Gerade in dem Moment, in dem sie scheinbar verstummt, spricht sie am lautesten. Zöch gelingt eine Darstellung von bemerkenswerter innerer Spannung, leise, präzise, durchdringend.

Wenn Mei das Innere und Celik den Gegenblick verkörpert, dann ist Bax, gespielt von Adrian Stowasser, die Reibung, die das System in Bewegung hält. Stowasser gibt der Figur eine kantige, beinahe anarchische Energie, ein Wesen zwischen Ironie und Verzweiflung, zwischen moralischem Aufbegehren und Selbstsabotage. Seine Ironie ist keine Pose, sondern Schutzmechanismus. Hinter dem spöttischen Ton liegt Skepsis, ein Wissen um die eigene Verstrickung. Bax wird so zur tragikomischen Figur, die das System erkennt, dem sie aber doch nicht entkommt.

Im Zusammenspiel mit Zöch und Wiborny wirkt Stowasser als Katalysator. Er bringt die stillen Kräfte in Bewegung, zwingt die anderen Figuren und das Publikum zur Selbstbefragung. Seine Wandlungsfähigkeit zwischen aggressivem Aufbegehren und stiller Reflexion verleiht der Figur ihre Wahrhaftigkeit.

Der Regie von Gerhard Werdeker gelingt eine präzise Balance zwischen Strenge und Überzeichnung. Die Bühne (J-D und Samuel Schwarzmann) karg, funktional, von kaltem Licht durchzogen, wird zur Projektionsfläche für das, was unausgesprochen bleibt - Angst, Anpassung, Zweifel. Die Darsteller nutzen diesen Raum meisterhaft; sie sprechen nicht nur Texte, sie beobachten, kommentieren, kontrollieren und legen so die Mechanik des Theaters selbst frei.

Das Publikum erkennt: Die Wahrheit war nie verborgen, sie war immer Teil der Inszenierung.

SPIEGEL ist eine glänzend gespielte Versuchsanordnung über Macht und Moral. Das Ensemble überzeugt durch psychologische Präzision, sprachliche Schärfe und ein seltenes Gespür für die Zwischentöne des Absurden. Sam Holcrofts Stück wird hier zu dem, was es verspricht, ein gefährlicher, verführerischer Spiegel, in dem jede Lüge einen Funken Wahrheit enthält.

SPIEGEL ist noch bis zum 22. November 2025 zu sehen.

6 von 6 Sternen: ★★★★★★
                 Kritik: Michaela Springer; Fotos: Barbara Pálffy

  • Adrian Stowasser, Paul Wiborny
  • Anna Zöch, Adrian Stowasser, Paul Graf
  • Anna Zöch, Adrian Stowasser, Paul Wiborny, Paul Graf
  • Anna Zöch, Adrian Stowasser


www.theaterspielraum.at



 

 

 

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