04.05.2025 - Freie Bühne Wieden/ Wien
70 Jahre österreichischer Staatsvertrag
Im Gespräch mit Zeitzeuge Matthias Mander inkl. Lesung zu DER DIVERSANT
Rückblick auf ein historisches Kapitel. Ein eindringlicher Abend mit Matthias Mander.
„70 Jahre österreichischer Staatsvertrag“. Unter diesem Titel lud ein außergewöhnlicher Abend dazu ein, Geschichte hautnah zu erleben. Der renommierte Zeitzeuge und Autor Matthias Mander sprach mit Michaela Ehrenstein über seine Erinnerungen an die dramatischen Jahre in Teilen Wiens unter der russischen Besatzungsmacht zwischen dem Ende des 2. Weltkrieges 1945 und dem Abzug der Truppen 1955. Seine Empathie ermöglichte ihm bereits als 22-Jähriger HAK-Absolvent eine beeindruckende Karriere bei dem Stahl- und Maschinenunternehmen Waagner Biro.
Mander überzeugte an diesem Abend mit seiner feinsinnigen Art, sowie persönliche Eindrücke und historisches Wissen zu verweben. Besonders beeindruckend war seine Fähigkeit, die damalige Atmosphäre spürbar werden zu lassen, die Unsicherheit, die Hoffnung und das Ringen um Selbstbestimmung. Michaela Ehrenstein führte das Gespräch souverän, ließ Raum für Manders Gedanken und setzte kluge Impulse, die das Publikum zum Mitdenken einluden.
Im Anschluss bot eine Lesung aus Manders neuem Stück DER DIVERSANT einen weiteren Höhepunkt.
Im Mittelpunkt steht ein älterer Buchhalter, der in der russischen Besatzungszone die Bücher unter Todesandrohung zu Gunsten der Russen frisieren muss. Seine Kreativität und Interpretation der einzelnen Verrechnungsposten retten ihm und der Fabrik das Leben. Jahrelang lebt er unter ständiger Angst, dass es bei einer Überprüfung einer höheren russischen Instanz auffallen könnte und er in den sicheren Tod nach Sibirern geschickt wird. Nach der Befreiung fällt all seine Last ab und er entscheidet sich, all seine Taten Bundeskanzler Raab zu gestehen. Ihn plagt sein Gewissen, dass durch „seine Schuld“ Österreich noch höhere Reputationskosten entstanden sind.
Gerhard Dorfer, Klaus Haberl, Robert Ritter, Birgit Wolf und Johannes Wolf verliehen den Figuren in präziser und nuancierter Interpretation Leben. Besonders hervorzuheben ist die dichte, beinahe beklemmende Atmosphäre, die sie gemeinsam schufen. Matthias Mander gelingt ein Theaterstück, das gleichermaßen Kopf und Bauch adressiert. Es ist ein Stück, das fordert und letztlich tief bewegt.
DER DIVERSANT ist kein leicht zugängliches Werk und will es auch nicht sein. Es ist ein intellektuell anspruchsvolles Theatererlebnis. Es beugt sich nicht dem schnellen Konsum, sondern bleibt dem Theater als Denkraum treu. Ein präzises, mutiges Stück Zeitdiagnose, das unbequem, notwendig und beeindruckend aktuell ist.
Der Abend verband Geschichtsvermittlung und literarische Kunst auf eindrucksvolle Weise und zeigte einmal mehr, wie wichtig der Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist. Eine Veranstaltung, die lange nachhallt.
6 von 6 Sternen: ★★★★★★
Kritik: Michaela Springer; Fotos: Wolfgang Springer